aus Gesundheitstipp, 05.2019

Viele der über 80-Jährigen haben den Überblick über ihre Medikamente verloren

Gerade ältere Patienten schlucken oft zu viele oder falsch dosierte Tabletten. Die Folge: Nebenwirkungen – und wieder neue Medikamente.

Elfriede Meyer aus Stein am Rhein SH hat Sorgen mit ihrer Gesundheit: «Meine Beine sind schlecht durchblutet und abends geschwollen.» Vor zwei Jahren hatte die 88-Jährige einen Herzinfarkt, kürzlich eine Thrombose und seit langem funktioniert ihre Schilddrüse nicht mehr gut. Ausserdem plagen sie Bauchschmerzen: Das Gewebe ist verwachsen, weil sich Meyer mehrmals operieren lassen musste. Ärzte verschrieben ihr gegen die Beschwerden insgesamt 16 Medikamente (siehe Rezept rechts). Das macht ihr zu schaffen: «Ich fühle mich weniger gut, seit ich so viele Mittel nehmen muss.» Ältere Patienten wie Elfriede Meyer schlucken oft mehrere Medikamente gleichzeitig. Das ist riskant.

Der Zürcher Altersmediziner Sacha Beck sagt:

«20 bis 30 Prozent der Patienten über 80 bekommen Mittel, die weniger geeignet, zu hoch dosiert oder gar nicht mehr nötig sind.» 2016 kam eine österreichische Studie des Uniklinikums Salzburg sogar auf noch höhere Zahlen. Die Forscher hatten 425 Senioren in österreichischen Altersheimen untersucht. Über 70 Prozent der Bewohner hatten Medikamente, die sie nicht benötigten. Darunter waren Beruhigungsmittel, Psychopharmaka, Abführ- und Schmerzmittel. Elfriede Meyer schluckt Dafalgan, Tramadol und Novalgin gegen ihre Bauchschmerzen. Sacha Beck: «Drei verschiedene Schmerzmittel sind in vielen Fällen zu viel.» Zudem beurteilt er Tramadol kritisch: «Wir verschreiben es im Alter nicht mehr oft, weil es zu Verwirrung und Übelkeit führen kann.»

Meyer nimmt auch ein Kalium-Präparat ein. Der Grund: Ihr Ab- führmittel Laxoberon und der Blutdrucksenker Torasemid können zu Kaliummangel führen. Beck sagt: «Möglicherweise würde eine kleinere Dosis Torasemid ausreichen.» Auch das Abführmittel Laxoberon hält er für fragwürdig. Bei Verstopfung helfe oft, wenn man Feigen esse, viel trinke oder sich mit viel Ballaststoffen ernähre.

Die Patientin nimmt zudem regelmässig den Säureblocker Pantoprazol. Weshalb – das weiss sie nicht. Sacha Beck kommentiert: «Wenn die Frau keine Magenbeschwerden oder -krankheiten hat, ist das Mittel meist unnötig.» Denn Säureblocker können schaden, weil dann der Körper andere Medika- mente schlechter aufnehmen kann. Zudem steigt das Risiko für Knochenbrüche.

Calcimagon soll Meyers Knochen stärken. Beck sagt, das sei oft unnötig, wenn man ausgewogen esse und keine Osteoporose habe. Fürs Herz verschrieb ein Arzt der Patientin Corvaton und Ranexa: Beide verbessern die Durchblutung des Herzens. Arzt Beck rät dennoch, die Mittel vom Herzspezialisten überprüfen zu lassen: «Normalerweise gibt man sie nicht über längere Zeit.» Sie können zu Schwindel und Stürzen führen.

Ältere Patienten mit mehreren Krankheiten haben oft dasselbe Problem: Sie erhalten ihre Mittel von verschiedenen Ärzten verschrieben – und oft hat keiner den Überblick über alle Pillen. Doch diese beeinflussen sich gegenseitig. Aspirin und Blutverdünner erhöhen zum Beispiel das Risiko für Blutungen. Gesundheitstipp-Arzt Thomas Walser sagt: «Schon ab fünf Medikamenten nehmen Wechselwirkungen rapide zu.»

Der israelische Altersmediziner Doron Garfinkel fand Erstaunliches heraus. Er ging davon aus, dass Altersheimbewohner oft Mittel schlucken, die mehr schaden als nützen. Deshalb setzte er bei rund 120 Altersheimbewohnern gezielt zwei bis drei Medikamente ab, die er für problematisch hielt. Diese Patienten verglich er mit Bewohnern, die alle ihre Mittel nahmen. Das Resultat: In der Gruppe mit weniger Medikamenten starben innert einem Jahr fast ein Viertel weniger Patienten. Die Studie erschien 2007 im «Israel Medical Association Journal».

Sacha Beck rät Patienten über 80 Jahren, ihre Medikamente alle sechs Monate von einem Arzt überprüfen zu lassen. Er sagt: «Manchmal schlucken Patienten zwar unnötige Medikamente, gleichzeitig erhalten sie aber nötige Medikamente nicht.» Im Alter gelte nicht einfach die Devise «weniger ist mehr». Entscheidend sei, die richtigen Medikamente in der richtigen Dosis zu geben – und abzuklären, welche Ziele sich die Patienten von der Therapie erhoffen.

 

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